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Teuflische Spitzengifte der Natur

von Hans Jörg Müllenmeister08.02.15 00:27:04

Im Mittelalter wusste die Borgia-Dynastie das gute alte Mordgift Arsen mit List und Tücke einzusetzen. Die Clique bescherte unliebsamen Zeitgenossen eine vorzeitige Himmelfahrt. Die heute bekannten Gifte sind dagegen wahre „Himmelfahrts-Raketen“. Schon mit geringsten Dosen im Grammbereich ließen sich ganze Landstriche entvölkern. Der mittelalterliche Arzt Paracelsus erkannte „Allein die Dosis macht‘s, dass ein Ding kein Gift sei“. Das gilt auch heute noch. Hier behandeln wir nur die Spitzenreiter aller natürlichen Gifte, etwa das „sparsame“

Bakteriengift Botulinumtoxin (kurz Botox): Nur etwa 0,000 000 0015 Gramm, gleich 1,5 Milliardstel Gramm davon genügen, um die Hautfalten eines Menschen für ewig zu glätten. Diese Menge entspricht gerade mal dem Gewicht von 2000 roten Blutkörperchen.

LA50-Dosis

Ehe wir behutsam auf Zehenspitzen in die Giftküche der Natur eintreten, müssen wir über die letale, also tödliche Dosis reden. Definitionsgemäß ist die LA50-Dosis der Wert eines Stoffs, bei dem experimentell 50% der Versuchstiere sterben. Die Tierart für den dieser Wert gilt und die Art der Aufnahme muss auch angegeben werden! Während über 50 Gramm Salz auf einmal verspeist, den Menschen vergiften kann, wirken sich 15 Liter Wasser ebenso lebensverkürzend aus. Und was eben noch ein Gift war, kann in geringerer Dosierung heilend wirken.

Ricin: ein heimtückisches Gift macht Furore

In Spionagekreisen weiß man die schrecklichen Waffen der Natur zu nutzen. Ist Ihnen noch der „Regenschirmmord" vom 7. September 1978 auf den Exil-Bulgaren Georgi Markov in London in Erinnerung? Da stach ein Unbekannter mit einem als Injektionsgerät präparierten Regenschirm Markov hinterlistig in die Wade. Noch am gleichen Abend bekam er Fieber, sein Blutdruck fiel ab. Tage später versagte sein Herz. Bei der Autopsie entdeckte man eine 1,5 mm große Hohlkugel aus Platin und Iridium mit zwei Öffnungen ‒ das Corpus delicti für die Ricin-Injektion.

Ricin aus dem Samen des Wunderbaums, Ricinus communis

Ja, Sie haben richtig gelesen, das abführende Rizinusöl (meist mit „Z“ geschrieben) selbst ist ungiftig, aber die Samen enthalten das toxische Eiweiß Ricin. Das ist haarscharf am Gift vorbei, aber das Ricin geht nicht beim Pressen in das Öl über!
Die Natur hat sich mit Ricin eines der toxischsten Eiweißkörper einfallen lassen. Die unbehandelten Samen des Wolfsmilchgewächses enthalten etwa 120 mg Ricin auf 100 g. Verdauungsenzyme können es nicht zerstören und für ein Eiweiß ist es recht hitzestabil. Für den Menschen wirkt eine Dosis von etwa 1 mg pro kg Körpergewicht tödlich. Das entspricht einigen Ricinus-Samen. Ricin hat den Status eines biologischen Kampfstoffs.

Der „Zellen-Einbrecher“ Ricin

Ricin, ein Leptin, besteht aus einer zellbindenden und einer giftigen Komponente. Einmal in die Zelle eingedrungen, entfaltet sich das Vernichtungswerk. Das eigentliche Gift ist ein Enzym. Und genau das bewirkt, dass eine so winzige Menge Gift so gefährlich ist. Warum? Nun, Enzyme wirken katalytisch; sie können ihre schädliche Aktion ständig ausführen. Ein einziges Gift-Molekül kann die Eiweiß-Synthese an allen Ribosomen (Zellorganellen) einer Zelle lahmlegen. Der Zell-Einbrecher, das Ricin-Toxin, tobt solange, bis die ganze Zellchemie aus den Fugen gerät und die Zelle zusammenbricht.

Die Zeit bis zum Erblassen

Es mögen Stunden oder Tage vergehen, ehe es zu Übelkeit, Erbrechen, Durchfällen und Herzrasen (Tachykardie) kommt. Der ständige Flüssigkeitsverlust trocknet den Körper aus und birgt die Gefahr des Kreislaufversagens. In schweren Vergiftungsfällen kommen hinzu: Krämpfe, blutige Koliken, Fieber bis hin zum akuten Nierenversagen. Epileptische Anfälle treten zuletzt vor dem Tod auf. Tod durch Atemlähmung und / oder Herzversagen ist die Folge.

Das Botulinumtoxin, bekannt als Botox

Welch ein neurotoxisches Protein! Es ist das Stoffwechelgiftprodukt (Exotoxin) des stäbchenförmigen Bakteriums Clostridium botulinu. Eigentlich verbirgt sich dahinter eine ganze Giftfamilie. Diese Giftzwerge haben einen Durchmesser von etwa 1 Mikrometer und leiten sich aus dem lateinischen Wort für bolutus gleich Wurst ab. Schon früher brachte man diese Vergiftung mit Wurst oder Wurstkonserven in Verbindung. Prächtig gedeiht das Bakterium in Wurst- und Gemüsekonserven, aber auch in vakuumverpackten Lebensmitteln. Es liebt ein sauerstoffarmes Milieu. Hier keimt es aus und produziert das Toxin. Achtung: Sie sollten die durch den Innendruck gewölbten Konservendosen sicherheitshalber gleich entsorgen. Im Prinzip sind aber die Bakterien-Sporen überall in Böden anzutreffen.

Steckbrief der Botulinumtoxine

Sie sind hochmolekulare Protein-Komplexe, bestehend aus dem eigentlichen Neurotoxin und meist einem weiteren, nichttoxischen Hüllprotein. So genannte Disulfidbrücken formen und stabilisieren die Proteinstruktur. Bisher identifizierte man sieben unterschiedliche Neurotoxine (Antigentypen A bis G). Das Gift ist geruchs- und geschmacklos; erst Temperaturen von über 85°C machen ihm selbst den Garaus.

So wirkt Botulinumtoxin

Seine Wirkung beruht auf einer kompletten Blockade des Neurotransmitters Acetylcholin. In der Folge kommt es zu Störungen des vegetativen Nervensystems und Lähmungen der Muskulatur bis hin zum Stillstand der Lungenfunktion (Ersticken).
Schleimhäute oder offene Wunden sind Schleusen für das Botulinum-Toxinin. Es verteilt sich über den Blutkreislauf und führt so zu seinen Zielorten: die Synapsen an den Verbindungsstellen zwischen Nerven und Muskeln.

Für die inhalatorische Botulinum-Vergiftung sind genaue Zahlen nicht bekannt. Nur Speziallaboratorien können den Giftnachweis erbringen, häufig sind dagegen Fehldiagnosen als Erkrankungen des Zentralnervensystems. Das sollte aber kein Ansporn sein für Bösewichte mit „Schwiegermutter-Erkaltungsgelüsten“.
Bleibt zu erwähnen, dass Botox (so kennt und nennt man es vereinfacht) in der medizinischen Praxis in äußerst geringen Dosen eine gezielte Muskelentspannung bewirkt, aber auch manchen Damen ihre natürliche faltige Gesichtsrestschönheit zu einer leblosen Maske erstarren lässt.

Die Würfelqualle: atemraubende, satanische Schönheit

Hier beschäftigen wir uns im Wesentlichen mit der Giftschönheit selbst, weniger ausführlich mit ihrem komplexen Nesselgift, denn bisher ist seine komplexe Chemie kaum erforscht. Wir haben es mit dem giftigsten Geschöpf der Meere zu tun, das während seiner Evolution unglaublich spannende Fähigkeiten entwickelte, die uns einfach faszinieren.

Vom asexuellen Polypen bis zum Quallen-Sex

Irgendwann vor Jahrmillionen begann für die ersten sesshaften aber wanderfreudigen Polypen ein neuer Lebenszyklus, den sie bis heute beibehielten – im Brackwassergebiet größerer Flussmündungen. Sie lösten sich durch Einschnüren von ihrer Kolonie und strudelten strömungsgetrieben hinaus ins Meer. Vielleicht langweilte das ungeschlechtliche Polypen-Sexleben diese Pioniere, ebenso der Zwang, nur auf das vorbeidriftende Nahrungsangebot angewiesen zu sein. Wie aber die heutigen gläsernen Tänzerinnen des Meeres zum Sex kamen, liegt im Halbdunkeln der Evolution. Fest steht aber, dass einige Quallenschönheiten körperlosen Sex lieben: Das Weibchen gibt seine Eier einfach ins Meer ab und das Männchen folgt ihrem Tun mit seinem Sperma. Die produzierten Keimzellen vereinigen sich und wachsen zu einem Polypen heran – ein neuer Lebenskreislauf kann beginnen. Andere dieser durchscheinenden Geschöpfe umwabern sich wie Schlangen mit ihren Tentakeln. Deshalb leitet sich das Synonym für die Qualle, die Meduse, aus der griechischen Mythologie ab.

Die elegante Gestalt der Meduse

Das freie Sexleben ist das eine, ein perfekte Überlebensstrategie zu entwickeln, ist das andere. Schauen wir uns grob den Körperbau der Meduse an. Ihre Gestalt erinnert an einen Schirm oder eine Glocke, unter denen die Tentakeln sitzen. Der gallertartige Organismus bestehen zu über 98% aus Wasser, besitzt zwei Hautschichten, getrennt durch eine Gelschicht. Hirn oder Herz fehlen, ebenso komplizierte Gefäßsysteme. Genial verkürzt: Die Mundöffnung ist zugleich der After. Lecker.

Die erste geniale Feinheit der Schwimm-Meisterin

Unter den Würfelquallen gehört Chinorex fleckeri zu den Schnellsten unter den Hohltieren. Genial ist ihre Ur-Erfindung, denn sie nutzt das Rückstoßprinzip für ihre Fortbewegung. Ein abwechselndes Füllen und Entleeren ihrer Schirmhöhlung ermöglicht der gläsernen Schwimmerin ein schnelles, zielgerichtetes Fortbewegen. Damit erreicht sie Geschwindigkeiten von bis zu neun Kilometern in der Stunde; vor allem kann die Seewespe, wie sie auch heißt, ihre Schwimmrichtung abrupt ändern. Das befähigt sie, Fluchtversuche ihrer Beute wie Garnelen und kleinere Fische, zu vereiteln. Dagegen bewegen wir uns im Medium Wasser wie lahme Enten.

Die zweite geniale Feinheit: der 24-Auge-Panoramablick

Wenn die Würfelqualle an der Meeresküste entlang pulsiert, kann sie auf ihre komplexe Sehfähigkeit bauen: 24 kolbenförmige Sinnesorgane (Rhopalien), bestehen aus acht echten Augen mit Zehntelmillimeter großen hochentwickelten Linsen sowie Netzhaut und Glaskörper, die ein sehr scharfes Bild ohne Farbfehler liefern. Außerdem besitzt sie 16 einfache Pigmentgruben, die sie befähigen, hell und dunkel zu unterscheiden. Die Linsenaugen können fokussieren. Ob sie Farben erkennt, liegt noch im Dunklen. Merkwürdig, ihre Augen sind nach innen gerichtet. Vermutlich beäugt die Meduse die Beute, bevor sie die Nahrung in den Magen geleitet: die Augen essen eben mit. Die Mehräugigen verarbeiten die Nervensignale ihrer Linsenaugen direkt in dem Nervenareal, das die Schwimmbewegungen steuert; dazu braucht die Meduse also keine Zentrale wie das Gehirn.

Damit die Medusen orientierungssicher durch den Wasserkörper ruckelt, verfügt sie am Rand ihres Schirms oder Glocke über Gleichgewichtsorgane (Statocysten). Die enthalten zahlreiche Kristalle (Statolithen). Sie ermöglichen durch ihre träge Masse dynamische Bewegungen und die Richtung der Schwerkraft (statisch) wahrzunehmen.

Die dritte absolut geniale Feinheit: ihr Giftinjektionsapparat

An der Schwimmglocke der Meduse hängen bis zu 60 Tentakelbündel von jeweils mehreren Metern. Diese sind mit Nesselzellen (Nematocyten) bewehrt, deren feine Fäden bei mechanischem Reiz aktiviert werden. Sie dringen in die Haut des Opfers ein und entladen ihr extrem starkes Gift explosionsartig. Sagenhaft: Die Nesselkapseln treiben mit dem 40.000-fachen der Erdbeschleunigung winzige Stilette durch die Haut ihres Opfers. Sie entladen ihr Gift mit dem 150-fachen des Atmosphärendrucks. Die gesamte Tentakellänge kann mehr als 150 m sein und insgesamt 200 Millionen Nesselzellen enthalten. Genug Gift, um an die 250 Menschen ins thermodynamische Gleichgewicht zu versetzen; (physikalisch bedeutet das: Minimieren der Energie und Maximieren von „Unordnung“, um das unschöne Wort vom „Tod“ zu vermeiden).

Die Nesselkapseln hinterlassen auf der Haut des Opfers grossflächige Brandmale mit einem Striemenmuster. Jährlich fallen weltweit der Würfelqualle 10 Mal mehr Menschen zum Opfer als durch Haie.

Das Gift: brillant komponiert, effektiv und blitzschnell verabreicht

Ein trügerisch-friedliches Bild umgibt einen ungeschützten Taucher in den Riffen Queensland/Australien, wenn er einer Würfelqualle (Chironex Fleckeri) im Flachwasser begegnete. Fasziniert von ihrer sirenenhaften Schönheit, hält die Bewunderung nur bis zum Berühren ihrer Tentakel an; schlimmstenfalls verkürzt sich damit die Lebensrestlaufzeit auf nur wenige Minuten: Bereits anderthalb tausendstel Gramm ihres Toxins reichen aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Das ist nur ein Zwanzigstel des Gewichts eines Reiskorns. Insgesamt trägt das gläserne Nesseltier so viel Nervengift in sich, dass es 250 Menschen in die ewigen Jagdgründe schicken könnte.

Das Irukandji-Syndrom

Zu den Würfelquallen gehören die wohl am meisten gefürchteten Quallenarten, darunter die Carukia barnesi, eine Art aus der Irukandji-Gruppe, die das teuflisch schmerzhafte Irukandji-Syndrom auslösen kann. Der Name Irukandji leitet sich von einem Aborigines-Stamm ab, der ursprünglich an der Nordostküste von Queensland ansässig war.
Die Symptome können innerhalb von Minuten einsetzen. Die Betroffenen empfinden starke, oft zyklisch auftretende Schmerzen in den Extremitäten, Rücken, Bauch oder Brust. Sie gehen einher mit einem Gefühl der Todesangst. Es können sich lebensbedrohliche Komplikationen einstellen, z.B. akute Lungenblutungen. Die Todesfälle traten durch Hirnblutungen als Folge einer extremen Blutdruckerhöhung ein.

In Australien sind jährlich etwa 60 Menschen vom Irukandji-Syndrom betroffen. Inzwischen wurden Irukandji-ähnliche Symptome auch aus Thailand, der Karibik und Hawaii gemeldet. Bisher gibt es kein Gegengift für die Nesselgifte der Irukandji-Artengruppe! Als Erste-Hilfe-Maßnahme hat sich die Behandlung der Stichstellen mit Essig bewährt. Dieser verhindert aber nur, dass die noch nicht explodierten Nesselkapseln nachträglich doch noch explodieren und so die Vergiftung verstärken.

Etwas Chemie über die Giftmischung

Das Giftgebräu besteht aus hochmolekularen Peptiden, also chemische Verknüpfungen aus mehreren Aminosäuren; aber auch aus Neurotransmittern. Das sind biochemische Botenstoffe, die an Synapsen die Erregung von einer Nervenzelle auf andere Zellen und Gewebshormonen überträgt. Eine der Giftkomponente ist ein Poly-Peptid, das durch bestimmte „molekulare Brücken“ stabilisiert wird. Poly-Peptid wirkt ähnlich wie das Pfeilgift Curare: Es lähmt die Muskel durch anhaltende Depolarisation (Abnahme des Aktionspotentials) der Kontaktstelle (Synapsen) zwischen Nerven- und „angeschlossenen“ Zellen. Weitere Giftinhaltsstoffe sind höhermolekulare Peptide, deren Struktur noch nicht erforscht ist. Sie sind zellauflösend und lähmen den Herzmuskel.

Traum der Wissenschaft ist es, dass man aus diesem stärksten Gift der Natur eines Tage ein Medikament gegen Krebs entwickelt. Von einer anderen hochgiftigen Ozeanbewohnerin, der Kegelschnecke Conus geographus wissen wir, dass ihr Giftcocktail bereits wertvolle Leitsubstanzen für die Medizin liefert: Ein Schmerzmittel (Analgetikum), dass tausendmal wirksamer ist als Morphin – und das ohne Nebenwirkungen. Indes beherbergen unsere Weltmeere noch eine Unzahl maritimer Geschöpfe – ungehobene pharmakologische Schätze, deren schreckliche Gifte Idee und Ausgangsstoff für wirkungsvolle Medikamente sein können. Die bisherigen Forschungsgelder, die man dafür bereitstellte, sind allerdings nur ein Brosamen gegenüber der weltweiten Ausgaben für Rüstungs-“Güter“ ‒ da fragt man sich, was daran gut ist.

© Hans-Jörg Müllenmeister